Ich bin davon überzeugt, dass mehr Weiblichkeit – oder noch grundlegender – mehr Diversität in der Wirtschaft eine essentielle Voraussetzung für einen tiefgehenden Systemwandel ist. Bei Wildling arbeiten wir an einer feministischen, antirassistischen und diversen Unternehmenskultur. Themen wie Gleichberechtigung, Vereinbarkeit und Diversität begegnen wir z.B. durch ein Gehaltskonzept, das die gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit sicherstellt, die Möglichkeit jede Rolle in Teilzeit und zu selbstbestimmten Arbeitszeiten auszuüben, ein Recruitingkonzept und Schulungen für Mitarbeitende.
Dennoch stoßen wir bei vielen Herausforderungen auch immer an Grenzen, die durch ein System gezogen werden, von dem wir unweigerlich Teil sind. Beispielsweise können wir unsere Gehälter nicht komplett unabhängig von Marktgehältern definieren, was automatisch dazu führt, dass klassisch von weiblich gelesenen Personen besetzte Stellen im Durchschnitt niedriger bezahlt sind als klassisch männlich besetzte. Das lässt sich nur zum Teil korrigieren, ohne dass man wirtschaftlich handlungsunfähig wird. Ein bisschen ähnlich sieht es z.B. mit der freien Zeiteinteilung und Teilzeitarbeit aus. Aktuell arbeiten bei uns mehr Frauen in flexibler Teilzeit als Männer, weil sie gleichzeitig die klassische Aufgabe der (unbezahlten) Carearbeit übernehmen. Für echte Gleichberechtigung müssten eigentlich alle weniger arbeiten, um sich dann Carearbeit und sonstige Aufgaben anders aufteilen zu können.
Ein echter Wandel – z.B. durch vergütete Carearbeit, ein geändertes Steuersystem, das unter anderem kürzere Arbeitswochen bei Vollzeitgehalt für Arbeitgeber leichter finanzierbar machen würde – lässt sich daher nur an höherer Ebene anstoßen. Dazu vernetzen wir uns vielfältig mit Netzwerken, der Politik und anderen Organisationen, um die Themen auch auf politischer Ebene voran zu treiben.
“Globale Gerechtigkeit und ein regenerativer Umgang mit uns und allem Leben sind nicht ohne radikalen Wandel zu erreichen”
Mittlerweile ohne jeden Zweifel ja. Mein Weg dorthin war aber eher zögerlich, weil ich – wie so viele wahrscheinlich – ein von Vorurteilen geprägtes Bild von Feministinnen hatte und großspurig dachte, dass wir “das ja jetzt nicht mehr brauchen”. Sicher auch, weil ich in meiner privilegierten Situation nicht häufig genug mit spürbaren Einschränkungen konfrontiert war und mir dieser Privilegien erst bewusst werden musste. Um dann im zweiten Schritt zu erkennen, dass mich diese Privilegien auch dazu verpflichten, strukturelle Benachteiligung anderer zu erkennen, transparent zu machen und für deren Rechte zu kämpfen. Wenn man sich einmal mit dem Thema beschäftigt, erkennt man zunehmend, wie krass unsere Gesellschaft immer noch von patriarchalen Strukturen geprägt und wie lang der Weg zu einer wirklich gerechten und freien Gesellschaft noch ist. Intersektionaler Feminismus ist dabei unerlässlich, um Unterdrückung und Ungleichheit konsequent anzugehen.
“Intersektionaler Feminismus ist unerlässlich, um Unterdrückung und Ungleichheit konsequent anzugehen”
Wir leben in einer globalen Krise, der wir nicht länger durch kleine Schönheitskorrekturen, oberflächliche Symptombehandlungen und Nachbesserungen am Wirtschaftssystem begegnen können. Aus meiner Sicht, braucht es einen deutlich radikaleren Wandel, der uns vom Zwang des steten Wachstumsdrucks befreit. Globale Gerechtigkeit und ein regenerativer Umgang mit uns selbst und allem Leben, das uns umgibt, sind anders nicht zu erreichen.
Ich glaube nicht, dass Wildling schon wirklich Anspruch darauf hat, sich als radikal neu zu bezeichnen. Wir sind noch zu sehr Teil des Systems, entdecken täglich neue Bereiche, in denen wir Ungerechtigkeit replizieren oder uns einer gelernten Sicht- oder Verhaltensweise noch nicht bewusst waren. Häufig ist es auch mit großer Anstrengung und Risiko verbunden, aus bestehenden wirtschaftlichen Zwängen auszubrechen.
Dennoch arbeiten wir täglich genau daran. Unsere Vision ist ein regenerativ wirtschaftendes Unternehmen zu werden, das durch die wirtschaftliche Tätigkeit an sich einen positiven Beitrag leistet. Mit einer regionalen, dezentralen und vielfaltsbasierten Wertschöpfung, mit einer gerechten Umverteilung von Finanzen, in kollektivem Eigentum. Ein Unternehmen, das keinen Abfall produziert, das nur jene Ressourcen nutzt, die sich innerhalb eines gegebenen Zeitraums erneuern können, das Wissen teilt und aus Kooperationen schöpft und das, nicht zuletzt, ein Ort ist, an dem man mit Spaß einer sinnhaften Tätigkeit nachgehen kann.
All das ist lang nicht erreicht, und sicherlich wird auch diese Vision immer weiter wachsen. Aber jeder Schritt in diese Richtung fühlt sich richtig und sinnvoll an.
“Um wirklich neue Wege zu gehen, müssen wir uns bewusst werden, wie viel altes Denken, eingeschränkte Perspektive und unerkannte Glaubenssätze in uns selbst stecken”
Als Menschen, die in ein patriarchales und kapitalistisches System hineingeboren sind, nehmen wir an sehr vielen Stellen Dinge als natürlich gegeben wahr, die alles andere als “natürlich” oder “gegeben” sind. Wir kennen es einfach nicht anders, daher fällt uns oft nicht auf, wie absurd bestimmte Gegebenheiten sind. Allein die Tatsache, dass die Stabilität unseres aktuellen Wirtschaftssystems darauf beruht, endlos zu wachsen, sollte uns schwer zu denken geben. Da Wirtschaftssysteme menschengemacht und nicht Naturgesetze sind, lassen sie sich verändern. Dass das als radikal wahrgenommen wird, obwohl es einfach nur rational ist, sagt schon viel über den Zustand unserer Gesellschaft aus.
Um wirklich neue Wege zu gehen, müssen wir uns erst einmal bewusst werden, wie viel altes Denken, eingeschränkte Perspektive und unerkannte Glaubenssätze auch in uns selbst stecken. Diese aufzuspüren, zu erkennen und loszulassen, kann schmerzhaft sein. Sich dieser eigenen Verletzlichkeit zu stellen, sich konsequent neuen Perspektiven zu öffnen und sich in die Unsicherheit einer Welt zu begeben, in der die eigenen bekannten Regeln und Maßstäbe nicht mehr gelten, das ist für mich der Prozess des Verlernens. Es ist ein Weg, der definitiv aus der Komfortzone heraus führt, aber gleichzeitig die einzige Möglichkeit, nicht in die gleichen Muster zu verfallen, die uns diesen Schlamassel überhaupt erst beschert haben.
Ich empfinde Kategorien schnell als einschränkend. Der Begriff “soziale Problemlösung” ist dehnbar (scheinbar kann ich auch mit der Herstellung von Schmuck “Frauen empowern”) und der Fokus auf Profit auf der Gegenseite gehört eben auch in unser klassisch gelerntes Wirtschaftssystem. Was mich wirklich interessiert auf meiner aktuellen und sicher noch sehr tapsigen Stufe des Verlernens, ist wie wir so wirtschaften können, dass das Wirtschaften an sich direkt zum Gemeinwohl beiträgt. Also nicht auf der einen Seite Ressourcen verbrauchen und auf der anderen etwas spenden. Oder auf der einen Seite ein Problem lösen, aber auf der anderen eins verursachen. Oder auf der einen Seite ein Problem lösen und damit reich werden. Sondern durch den Bedarf an Ressourcen Vielfalt schaffen (z.B. durch regenerative Anbausysteme für Rohstoffe), durch Umverteilung Gerechtigkeit schaffen (statt Profit zu akkumulieren) und durch eine andere Arbeitskultur Gesellschaft gestalten.
Wildlings Geschäftsmodell könnte klassisch als Social Business durchgehen. Wir entwickeln Schuhe, die ein natürliches Laufgefühl ermöglichen und sich regenerativ auf die Gesundheit auswirken. Damit machen wir Profit, der wiederum direkt in soziale Themen zurückfließt, wie z.B. in Resilienztrainings für das Team, die Förderung von gesellschaftsgestaltenden Netzwerken, regenerative und regionale Textilerzeugung, Reparatur- und Recyclingoptionen, Renaturierungsprojekte und so weiter. Dennoch kratzen wir bei wirklich tiefgehenden Lösungen noch ganz an der Oberfläche. Die Reife dazu und auch die Unabhängigkeit von einschränkenden Denkweisen und Systemzugehörigkeiten müssen wir uns erst noch erarbeiten.
“Was mich wirklich interessiert ist wie wir so wirtschaften können, dass das Wirtschaften an sich direkt zum Gemeinwohl beiträgt”
Unter dem Begriff Nachhaltigkeit wird oft die “Erhaltung des Status Quo” verstanden. Das ist aber angesichts der sozialen und ökologischen Zustände, in denen wir uns befinden, nicht mehr ausreichend. Was es braucht ist ein Miteinander – auch und gerade in der Wirtschaft – das darauf ausgelegt ist, nicht nur oberflächliche Erhaltung zu betreiben, sondern regenerative Bedingungen zu schaffen. Ein großes Ziel von Wildling ist, die Beziehungen zu unserer lebenden Welt so zu gestalten, dass ein Kreislauf des Gebens und Nehmens entsteht. Dieser Kreislauf sollte die Grenzen der natürlichen Erneuerbarkeit wahren – in gleichem Maße für Rohstoffe, wie auch z.B. für menschliche Energie, die für Arbeit aufgewandt wird.
Der wichtigste erste Schritt in diese Richtung, ist unseren eigenen Platz in der Welt kritisch zu hinterfragen. Welche Privilegien wurden uns in die Wiege gelegt? Auf welchen Ungerechtigkeiten beruht unsere Stellung? Wie stehen wir als Lebewesen in Verbindung mit allem anderen Leben und wie muss sich unser Verhältnis zur Welt ändern, damit wir zu einer Beziehung der Gegenseitigkeit anstelle der Ausbeutung gelangen? Das mag auf den ersten Blick ein wenig esoterisch klingen, aber ich glaube, dass ein großer Schlüssel zum Wandel in der Wahrnehmung der Vernetzung der lebendigen Welt und der Irrelevanz des Ego liegen.
“Der Begriff ‘Nachhaltigkeit’ als Einhaltung des Status Quo ist nicht mehr ausreichend. Wir brauchen ein Miteinander – gerade in der Wirtschaft – das regenerative Bedingungen schafft”
Ich glaube im Vergleich zu allem, was noch kommen wird, waren die bisherigen Herausforderungen winzig. Wildling ist viel zugeflogen, wir hatten großartige Startbedingungen und oft eine Menge Glück. Aber natürlich hat es Herausforderungen gegeben. Wie finanziert man das erste Wachstum? Wie baut man eine gute Unternehmenskultur auf? Wie schafft man es selbst immer wieder positive Energie aus der Arbeit zu ziehen?
Aus Fehlern lernt man oft am meisten, daher würde ich im Nachhinein nichts anders machen. Aber in ein paar Punkten bin ich sehr froh, dass wir diese Fehler nicht gemacht haben. Wir haben uns zum Glück nie für Investor:innen entschieden. Das würde uns heute bei unserer Freiheit unkonventionelle Wege einzuschlagen sehr im Weg stehen. Wir haben in der Unternehmenskultur nie auf extrinsische Motivation gesetzt (also keine Umsatzziele, keine Boni, keine Promotionen). Ich habe immer Aufgaben abgegeben, bevor sie mir über den Kopf gewachsen sind. Und ich habe mich früh genug daran erinnert, dass es neben der Arbeit auch noch ein Privatleben gibt und es niemand hilft (am allerwenigsten mir selbst), wenn ich im Rückblick sagen kann, dass ich immer fleißig gearbeitet habe.
“Zum Glück haben wir uns nie für Investor*innen entschieden. Das würde uns heute bei unserer Freiheit unkonventionelle Wege einzuschlagen sehr im Weg stehen”
Vertraue deiner Intuition. Hab Spaß in dem, was du tust. Stetigkeit ist key.