Wie die Rollen in unserer Familie verteilt sind und waren, hat maßgeblichen Einfluss auf die Gleichberechtigung² aller Geschlechter. Familie ist eine primäre Instanz unserer Sozialisation³. Hier beobachten wir schon früh die “Rollenpraxis” der einzelnen Familienmitglieder im Alltag. Eine Kernfrage ist, welchen Einfluss das Geschlecht bei der Aufgabenverteilung innerhalb der Familie nimmt.
Progressive Parenting meint neue Eltern- und Familienmodelle
Wenn in diesem Text von Progressive Parenting gesprochen wird, sind neue Eltern- und Familienmodelle für weniger Gender Bias⁴ und mehr Geschlechtergerechtigkeit gemeint. Bisher verfügbare, statistische Datensätze, sind meistens für heterogeschlechtliche Partnerschaften und Ehen erhoben worden. Wir greifen auch in diesem Text auf diese Daten zurück. Wir verstehen Familie als jegliche Eltern-Kind-Gemeinschaft, bei der mindestens zwei Personen unterschiedlicher Generationen zusammen in einem Haushalt leben⁵.
Progressive Parenting gehört zum Megatrend Gender Shift⁶ . Mit diesem Trend werden Geschlechterrollen zunehmend bedeutungsloser.
Progressive Parenting umfasst:
Die ursprünglich definierte „Normfamilie“ Mutter-Vater-Kind war lange Zeit der absolute Bremsklotz im Bestreben der Gleichberechtigung. Sie begünstigte neben der Fortschreibung von Gender Bias die Entstehung vieler ungemütlicher Gaps wie Gender Care Gap, Gender Pay Gap⁸ oder Gender Pension Gap.
Die traditionelle Rollenteilung umfasst:
Mit der Möglichkeit, in Elternzeit⁹ zu gehen, finden Eltern in Deutschland zumindest auf dem Papier einen günstigen Rahmen für Progressive Parenting. Aber ein vergleichsweise progressives System ist noch kein Garant für eine progressive Gesellschaft¹⁰ .
Obwohl unser System beiden Elternteilen die Möglichkeit gibt, frei über den eigenen Elternzeitanspruch zu entscheiden, bleiben immer noch mehrheitlich die Mütter mit dem Nachwuchs zuhause¹¹. Die Allensbach-Studie „Elternzeit, Elterngeld und Partnerschaftlichkeit¹² “ (2021) und Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen:
Teilzeit wird von der Politik als Vereinbarkeitsmodell von Beruf und Familie beworben. Sie wird allerdings zur Falle¹³, wenn sie dauerhaft bei niedriger Stundenzahl ausgeübt wird. Sie hat dann negative Effekte auf das Einkommen, die Altersvorsorge, oder auch die Karriereentwicklung. Daten des Statistischen Bundesamts zeigen¹⁴:
Da Väter im Vergleich weniger in Elternzeit gehen als die Mütter, gibt es oft zwangsläufige Unterschiede in Erwerbsbiographien¹⁵. „Motherhood Wage Penalty¹⁶“ beschreibt die Tatsache finanzieller Einbußen, die Mütter ab Geburt des ersten Kindes erleben. Wer zusätzlich Kinder- oder Angehörigenbetreuung alleine organisieren muss, ist dabei oft dauerhaft in Teilzeit- oder Niedriglohnmodelle gezwungen. Laut dem Statistischen Bundesamt waren rund 2,15 Millionen Mütter und etwa 462.000 Väter im Jahr 2021 alleinerziehend in Deutschland¹⁷. Ein Fünftel der erwerbstätigen Alleinerziehenden (22 Prozent) sind dabei besonders armutsgefährdet¹⁸.
Familie kann dein persönliches Mikrolabor für gesellschaftlichen Wandel werden. Für eine wirkliche Revolution des Familien- und Elternbildes im Sinne des Progressive Parenting brauchen wir nämlich nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern alle Einzelnen. Hier kannst du aktiv neue Familienmodelle wie beispielsweise Co-Parenting oder Mehrgenerationenfamilien leben und alte Narrative zu Elternsein und Rollenverteilung in der Familie aufbrechen. Im Sinne des Progressive Parenting: Tob dich ruhig aus!
Deine Elternteile oder dich umgebende Erziehungsberechtigte dienen dir von Geburt als Vorbilder und insofern auch als Verhaltensmodelle. Die Psychologie bezeichnet das Lernen von Vorbildern auch als Beobachtungslernen oder Lernen am Modell²⁰. Begegnen dir Rollenzuschreibungen von der Kindheit an regelmäßig, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass du sie unbewusst als Tatsache abspeicherst. (Unconscious Bias). Später kann aber auch das beobachtete Verhalten anderer wichtiger peer groups eine entsprechende Wirkung auf uns haben. Beispielsweise bei der Beobachtung, wer von den Kolleg*innen wie lange in Elternzeit²¹ geht.
Familie war lange Zeit dem Besitzstand des Mannes gleichbedeutend. Als „Beschützer“ herrschte er über Haus, Hof, Grund, sowie alle Güter und Personen in seinem Haushalt. Die “traditionelle Familie” ist ein Konzept des Bürgertums im 19. Jahrhundert²². Mit fortschreitender Industrialisierung, gegenderten Marketingkampagnen²³ und medialen Narrativen verfestigten sich die traditionellen Familienrollen, die dir auch heute noch in Dauerschleife begegnen. Die Familienpolitik und Rechtsprechung in Deutschland war bis in die späten 50er Jahre noch am Alleinverdienermodell ausgerichtet²⁴. Auch das Ehegattensplitting²⁵ geht auf die Tradition der staatlichen Förderung der “Versorgerehe” und des Alleinverdienstmodells zurück.
1958 tritt das Gleichberechtigungsgesetz in Kraft. Bis dahin konnte ein Ehemann entscheiden, ob und wo seine Frau arbeiten durfte²⁶. Zudem war er jederzeit berechtigt, das Arbeitsverhältnis seiner Frau zu kündigen. Bis 1977 durfte eine Frau in Westdeutschland allerdings nur dann berufstätig sein, wenn das „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ war²⁷. Erst mit der Reform des Familienrechts 1977 waren Frauen nicht mehr gesetzlich zur unbezahlten Hausarbeit verpflichtet („Gehorsamsparagraph“). Die Reform strich unter anderem die sogenannte Hausfrauenehe und ersetzte sie durch das Partnerschaftsprinzip²⁸. Seitdem gibt es für die Ehe keine gesetzlich vorgeschriebene Aufgabenteilung mehr. 1980 stellt ein Gesetz über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz (EG-Anpassungsgesetz) klar, dass Frauen das gleiche Gehalt für die gleiche Arbeit bekommen müssen²⁹. Zumindest laut Gesetz.
¹ https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/datenreport-2021/werte-und-einstellungen/330293/geschlechtliche-aufgabenteilung-im-zeitverlauf/
² https://www.teamnushu.de/magazin/gleichberechtigung
³ https://www.grin.com/document/17836
⁴ https://www.teamnushu.de/magazin/gender-bias-erkennen
⁵ https://www.familie.de/familienleben/bilderstrecke/unglaubliche-zahlen-fakten-so-leben-deutsche-familien-2023/#page-2
⁶ https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/megatrend-glossar/gender-shift-glossar/#:~:text=Progressive%20Parenting&text=Progressive%20Parents%20wollen%20im%20Leben,und%20Aufgabenverteilung%20kein%20Gewicht%20mehr ; https://www.teamnushu.de/magazin/die-megatrends-in-der-uebersicht ; https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-klassische-rollenverteilung-als-auslaufmodell-10134.htmhttps://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-klassische-rollenverteilung-als-auslaufmodell-10134.htm
⁷ https://www.teamnushu.de/magazin/work-life-balance
⁸ https://www.teamnushu.de/magazin/lohngerechtigkeit-entgelttransparenzgesetz
⁹ https://www.teamnushu.de/magazin/elternzeit-und-elterngeld
¹⁰ https://www.allbright-stiftung.de/vaeter ; https://www.dw.com/en/opinion-progressive-policy-regressive-society-germanys-parent-trap/a-58992588
¹¹ https://doku.iab.de/kurzber/2023/kb2023-01.pdf
¹² https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/IfD/sonstige_pdfs/8251_Bericht_Elternzeit_final.pdf
¹³ https://www.teamnushu.de/magazin/teilzeitfalle
¹⁴ https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/03/PD22_N012_12.html
¹⁵ https://www.klischee-frei.de/de/klischeefrei_83589.php/publication/detail/2508
¹⁶ https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0049089X20300144
¹⁷ https://de.statista.com/statistik/daten/studie/318160/umfrage/alleinerziehende-in-deutschland-nach-geschlecht/
¹⁸ https://de.statista.com/infografik/25377/armutsgefaehrdete-erwerbstaetige-in-deutschland/
¹⁹ https://www.teamnushu.de/magazin/vorbild
²⁰ https://www.teamnushu.de/magazin/vorbild
²¹ https://www.nber.org/papers/w18198
²² https://de.wikipedia.org/wiki/Familie
²³ https://www.teamnushu.de/magazin/post-gender-marketing
²⁴ https://www.teamnushu.de/magazin/gleichberechtigung
²⁵ https://www.teamnushu.de/magazin/teilzeitfalle
²⁶ https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/271712/gleichberechtigung
²⁷ https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/271712/gleichberechtigung-wird-gesetz/
²⁸ https://hundertjahrefrauenwahlrecht.de/1977-reform-des-ehe-und-familienrechts/
²⁹ https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschland-chronik/131920/13-august-1980