Anna Gliemer gründete 2015 gleem – Finest Natural Sweets, Deutschlands erste und immer noch einzige Naturpatisserie. In ihrer Manufaktur auf der Peutestraße in Hamburg kreiert sie klassische Pralinen, Törtchen, Kuchenpralinen und Tafelschokoladen – allerdings ohne klassische Zutaten, denn sie und ihr Team verzichten auf Zuckerzusatz und süßen nur mit Früchten, arbeiten glutenfrei und größtenteils vegan. Und um alle wertvollen Nährstoffe zu erhalten, kommen nur vollwertige, naturbelassene Bio-Zutaten in Rohkostqualität in ihre Kreationen. Wir haben mit ihr über ihren Start in die Selbständigkeit, die Herausforderungen und ihre Learnings der ersten Jahre gesprochen.
Wie kamst du auf die Idee, eine Naturpatisserie zu eröffnen?
Bei mir wurden 2009 etliche Nahrungsmittelunverträglichkeiten diagnostiziert, aber ich hatte keine Lust auf die ollen Fruchtschnitten aus dem Reformhaus. Ein geiles Snickers, aber ohne böse Zutaten, das war mein Ziel. Und diesen Riegel nahm ich dann immer mit zur Arbeit, wo meine Kollegen mich dann überzeugten, mehr daraus zu machen. Weil das gar nicht so öko schmeckte und aussah, wie es klang! Mein damaliger Freund hat dann das Gewerbe für mich angemeldet, ich hab mal schauen wollen wie es läuft und eine Crowdfundingkampagne geplant. Das Thema Nachhaltigkeit war mir schon vor Beginn meiner Selbständigkeit wichtig. Meine Zutaten beziehe ich daher aus kleinen Farmerkooperativen und habe zu fast jedem Lieferanten persönlichen Kontakt: Haselnuss-Hof in Italien, Kokos von den Philippinen, Datteln aus Saudi-Arabien und meine Kakaoplantage in Zentralbali habe ich Anfang des Jahres besucht. Bio bedeutet für mich nicht, ein Siegel zu tragen, sondern auf Boden, Pflanzen und Menschen, sowie die Anbau- und Erntebedingungen zu schauen. Verschiedene Fruchtfolgen auf einem Boden zum natürlichen Anreichern mit Stickstoff und Permakulturen mehrerer Fruchtpflanzen (z.B. Kakao, Kokos, Ananas und Vanille wie auf Bali) sind sehr wichtig für die Qualität meiner Ware und auch einen respektvollen Umgang mit den Ressourcen. Und bei unseren Verpackungen arbeiten wir zum Teil mit Graskarton* oder beschichtetem Karton, um Plastik zu vermeiden.
* Graskarton = 60% schnell nachwachsender Rasen und 40% Recyclingfaser
Bei vielen macht sich ein Gefühl von Verunsicherung und auch Überforderung breit, wenn sie an einen Start von null und ohne Sicherheiten denken. Ging es dir genauso?
Ich hatte keinen Plan und auch nach 5 Jahren immer noch Sorgen und die ein oder andere schlaflose Nacht. Ich hab nur gelernt, dass viele Ängste unbegründet sind und dass es mir gut geht, wenn ich um meine finanzielle Sicherheit weiß, weshalb ich auch bis jetzt immer Teilzeit-Geschäftsführerin war. Es ist gut dem Leben zu vertrauen, aber wenn du so ein Angsthase bist wie ich, ist es praktisch eine Strategie zu haben. Meine ist: sei dir bewusst, was im schlimmsten Fall passieren kann. Bereite dich gedanklich drauf vor und dann hast du ja einen Plan, falls es wirklich dazu kommt. Ist in meinen 5 Jahren aber noch nie vorgekommen!
Was würdest du sagen, waren die größten Herausforderungen in der ersten Zeit?
Die rechtlichen Anforderungen zu erfüllen, die ich gefühlt bis heute noch nicht ganz erfülle. Das ist im Lebensmittelbereich aber auch ganz besonders komplex.
Fail fast, fail hard, fail often – Stimmst du zu?
Da ich der Typ Mensch bin, der auf jeden Fall Fehler vermeiden will, gehe ich da leider nicht mit bei der Aussage. Oder den gefeierten Fuck Up Nights. Bei mir ist es eher so, dass ich jeder Situation etwas positives abgewinnen oder daraus machen kann. Egal wie schlimm sie ist. Das ist eine meiner besten Eigenschaften.
Hast du berufliche Vorbilder?
Ich habe Vorbilder in dem Sinn, dass ich diese Menschen für etwas besonderes halte und aus den besten ihrer Eigenschaften meinen Lebenstraum zusammen gesetzt habe. Die möchte ich hier allerdings nicht namentlich nennen, da ich mit allen sehr persönliche Geschichten teile. Mindestens eine ist aber auch bei nushu im Netzwerk. Und na gut, zwei kann ich ganz offen nennen, weil ich sie einfach großartig finde, unabhängig von unserer gemeinsamen Geschichte: Jens Rittmeyer, Sternekoch im No.4 und Thomas Sampl, so wie Frank Chemnitz aus der Hobenköök, einem ganz neuen, regionalen Markt- und Restaurantkonzept.
Ein Netzwerk ist dir also wichtig?
Das kann ich wirklich aus Erfahrung sagen: Je mehr Netzwerk, desto besser! Es ergeben sich einfach viel mehr Möglichkeiten unter einander! Wenn auch manchmal erst nach Jahren. Und es gibt immer so tolle neue Sachen zu erfahren und zu lernen.
Welches Mindset und welche Fähigkeiten braucht man deiner Meinung nach, um ein Unternehmen erfolgreich zu gründen?
Mut! Zuversicht und eine Leidenschaft. Oder vielleicht nenne ich es eher Liebe. Denn in der Liebe kann und muss man vieles Verzeihen. Das braucht eine Unternehmensgründung auch. Disziplin und Ausdauer gehören allerdings auch mit dazu. Wenn ich mir überlege wie lange ich schon dabei bin! Viele halten nicht so lange durch. Aber irgendwann kommt der Punkt, da passieren Dinge ganz von alleine. Doch das braucht Zeit.
Wie läuft dein Arbeitsalltag typischerweise ab? Hast du eine Routine?
Ich finde eine gewisse Routine schon gut, damit man sich nicht verliert, aber eigentlich ist jeder Tag anders, was ja auch das Spannende ist. Morgens werden auf jeden Fall erstmal die Mails und Bestellung gecheckt, dann Bestellungen gepackt. Dann entweder in die Produktion Pralinen machen oder an den Schreibtisch und schauen, wie ich meine Vision und meine Manufaktur bekannter machen kann.
Und wie hältst du es mit den Arbeitszeiten? Bist du ein Fan von Digital Detox oder immer erreichbar?
Ich bin total für Digital Detox! Vornehmlich am Sonntag komplett das Telefon aus und seit Anfang des Jahres bekomme ich weder auf dem Mac noch auf dem Smartphone die schreckliche rote eins als Mail- und Nachrichtensymbol angezeigt. Sehr entspannt! Meine Arbeitszeiten sind sehr unterschiedlich. September-Dezember zwischen 10 und 12 Stunden täglich plus Wochenende und Abendveranstaltungen. Im Sommer nur die Hälfte davon. Meine Pausen nehme ich mir, wenn ich im Kalender sehe, dass ich heute zum Yoga gehen soll. Sowas muss ich mir als Business Termin planen, sonst klappt das nicht. Und dann entspannt es mich aber auch.
Woran glaubst du liegt es, dass verhältnismäßig wenig Frauen in Deutschland gründen? Was müsste sich ändern?
Ich glaube, Frauen sind einfach vorsichtiger, um nicht ängstlicher zu sagen. Und sie kriegen auch mehr Gegenwind von der Familie oder so blöden Fragen wie: „Willst du denn keine Familie?“ Oder würden deine Eltern deinen Bruder fragen, was er sich für seine Rente überlegt hat?! Meistens nicht! Dich als Frau fragen sie dagegen schon recht besorgt. Da hat man schon mit sich selbst zu kämpfen und soll sich dann auch noch dem Gegenwind der Gesellschaft stellen. Leider ist es nun mal auch so, dass man sich von Lob und Begeisterung für seine Idee nichts kaufen kann – da müssen sich Frauen doch vielleicht auch noch ein bisschen wirtschaftlicher aufstellen mit ihren Ideen. Oder eben Arbeitsmodelle neu denken – was wiederum sehr anstrengend und zeitintensiv ist.
Und was würdest du als erstes ändern, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest?
Ich würde gerne Gesetze dahingehend ändern, dass kleine Bauern, Farmerkooperativen und Manufakturen unterstützt und geholfen wird zu überleben. Das ist dann wieder das Thema BIO-Siegel. Es gibt so viel mehr! Wenn Unternehmen Zero Waste und herbizid-/pestizidfrei arbeiten, ist das so viel mehr wert, als ein Siegel. Und ich würde gerne das Denken der Leute ändern, dass Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht zusammenpasst. Gut überlegt und zu Ende gedacht, funktioniert das nämlich gut.
Lieben Dank, Anna!
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